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Grenzen

Ich öffne meine Jacke. Für Anfang November ist es ziemlich warm, aber vielleicht war das letztes Jahr genauso. Die Fußgängerampel schaltet auf Rot, als ich vor ihr ankomme. Natürlich könnte ich sie noch überqueren, wenn ich wollte, aber da ich früh dran bin, entscheide ich mich dagegen. „Berufsorientierungszentrum“ steht auf der Tafel der Straße mir gegenüber. Nicht schlecht, dass ich angehalten habe, sonst hätte ich die bestimmt übersehen.

Was ich dort machen will, wo ich doch einen unbefristeten Vertrag habe? Obwohl meine Arbeit „nicht nervig“, wie so viele Leute es bezeichnen, ist? „Nicht nervig“, etwas worüber man in Zeiten der Krise angeblich froh sein muss. Zumindest höre ich das von all denen, die ohne Job dastehen. Ich will nicht undankbar sein, im Gegensatz, ich bin sogar sehr dankbar. Vor allem, weil mir vor meiner Ankunft in der Region mit der höchsten Arbeitslosigkeitsrate des Landes niemand geglaubt hat, dass ich einen Job finden würde. Trotzdem frage ich mich manchmal, ob es nicht mehr gibt, als Kunden Schlüssel zu reichen und ihnen zu erklären, dass sie, um zur nächsten Tankstelle zu kommen immer geradeaus und wenn sie die Wahl hätten nach rechts fahren sollten. Da gibt es diese Leute, die, wenn ich ihnen diese Frage stelle, schmunzelnd den Kopf schütteln und meinen das Leben sei so. Ein bisschen, als ob ich blöd sein müsste, mir überhaupt Gedanken über so etwas zu machen. Die Gewohnheit sei so. Man solle sich an die Gewohnheit gewöhnen und dann wär das nicht so schlimm. War denn bisher irgendwo von schlimm die Rede?

Dann vor einiger Zeit war da dieser Show-Produzent im Hotel, der mich nach etwa einer Woche Aufenthalt kopfschüttelnd anschaute und meinte „Was zur Hölle machen Sie denn hinter diesem verdammten Schalter?“

Als ich das Gebäude betrete, läutet ein Glöckchen. Die Einrichtung des Raumes ist altmodisch. Inmitten eines länglichen Empfangssaales steht unpassender Weise ein kariertes Sofa vor einer riesigen Zimmerpflanze. Das lässt den Raum, in dem sich, abgesehen von einem Schreibtisch mehrere Bücherregale befinden, noch vollgestopfter wirken. Die mittelalterliche Frau, die an besagtem Tisch sitzt, gibt mir zu verstehen, dass ich auf dem staubigen Sofa warten soll. Während ich darin versinke, gähne ich zum ersten Mal.

Der Show-Produzent begann von meiner Kreativität zu sprechen und sagte er wollte mich als Produktions-Assistentin einstellen. Ich will mir keinesfalls selbst schmeicheln - Ich möchte einfach nur, dass wir uns die Frage stellen „Was wäre, wenn wir um einiges mehr könnten, als wir jeden Tag tun?“

Stopp, kurz, nicht weiterlesen, sondern sich die Frage stellen.

Dem Show-Produzenten habe ich natürlich erklärt, dass ich keine Lust hätte zu seiner Firma in den kalten Norden zu ziehen und vor allem, dass ich doch schreiben wolle. Es ist natürlich ziemlich kühn zu behaupten, dass das Schreiben eine „wertvollere“ Tätigkeit sei, als den Kunden Schlüssel zu geben, vor allem um zwei Uhr morgens, wenn die Kundenaugen so müde sind, dass Lesen zu einer unvorstellbaren Aufgabe wird und kein Kunde sich etwas Schöneres als einen Zimmerschlüssel vorstellen kann. Und außerdem sollte doch jeder Beruf als wertvoll angesehen werden. Wird er in unserer arroganten Gesellschaft oft nicht. Sicher geht es in Wahrheit eher darum, wie wir selbst unsere Tätigkeit betrachten. Durch das uns-nützlich-fühlen werden wir nützlicher, wo doch alles im Kopf beginnt. Und sowieso alles Ansichtssache ist.

« In welches Gymnasium gehen Sie denn? » , fragt die Frau mit der übergroßen Brille und der rötlichen Kurzhaarfrisur. Ich brauche einige Sekunden, um zu bemerken, dass sie mit mir spricht, bevor ich zu Lachen beginne. Sie scheint nicht zu verstehen wieso, doch das ist mir ganz gleich.

Was ich eigentlich mit dieser, meiner Meinung nach essentiellen Frage „Was wäre, wenn wir um so einiges mehr könnten, als wir jeden Tag tun?“ meine ist, dass wir nicht nur an unsere Grenzen gehen sollten, sondern wir sollten die Grenzen erweitern, die Welt von oben betrachten, oder von der Seite, aber aus einem anderen Blickwinkel als die anderen. Wir sollten aufhören, „Es muss gehen“ zu antworten, wenn jemand fragt wie es uns denn gehe. Aufhören die drei Medikamente, die der Arzt uns verschrieben hat in der Apotheke zu holen, nur weil wir Kopfschmerzen haben. Aufhören der 90-Kilo Frau im Minirock hinterher zu starren und zwei Sekunden später einen Witz über Blutwurst zu machen. Wir sollten grundsätzlich darüber nachdenken unsere Gewohnheiten zu ändern. Diesen Irrglauben ablegen, dass eine Gewohnheit gut sei, aus dem einfachen Grund, dass sie eben eine Gewohnheit ist.

Das ist der Grund, warum ich hier sitze, auf dem staubigen, karierten, altmodischen Sofa, das vielleicht gar nicht altmodisch wäre, wenn ich der Modeszene ein bisschen weniger Glauben schenken würde. Als die blonde, leicht mollige Beraterin kommt, droht gerade der Sekundenschlaf über mich zu kommen. Ich denke kurz, dass sie nicht besonders gut in ihren Schuhen gehen kann, aber was wäre, wenn man genau so in Stöckelschuhen gehen sollte, um sich dem Gang eines Nilpferdes anzupassen? Als eines der gefährlichsten Tiere könnte es den Menschen in seiner Dummheit bestimmt eines Tages unterwerfen. Anerkennend schüttelte ich der Beraterin die Hand. Sie führt mich in einen Raum, mit noch mehr Regalen, zwei Computern und zwei großen, runden Tischen. Außer uns befinden sich dort eine weitere Frau und ein Jugendlicher. Sie sind damit beschäftigt, irgendwelche Daten in den linken PC zu tippen. Wir setzen uns an einen der Tische und sie fragt mich was ich denn wolle.

Kurz denke ich über diese Frage nach. Was sollte ich denn wollen, in einem verdammten Berufsorientierungszentrum? Meine Forschungen über Nilpferde intensivieren, vielleicht.

Also zeige ich den Anflug eines Lächelns und frage, ob ich nicht ein bisschen über mich erzählen soll. Obwohl sie gar nicht interessiert wirkt, nickt die Beraterin und täuscht ein Lächeln vor. Während ich spreche, merke ich, dass ihre Aufmerksamkeit schwindet. Wahrscheinlich denkt sie gerade darüber nach, was sie für ihren Mann zu Abend kochen könnte oder ob dieser wohl nicht zu spät kam, um die Nilpferdkinder von der Schule abzuholen. Ich spreche weiter, überzeugt und überzeugend, davon, dass ich sicher bin, dass ich „mehr“ kann, oder besser gesagt etwas anderes als hinter dieser verdammten Rezeption zu stehen – kreativer und nützlicher, wenn auch nur für meine eigene Entfaltung.

Je mehr die Beraterin mitbekommt, dass ich kein genaues Bild davon habe, welchen kreativen Beruf ich denn ausüben möchte, desto mürrischer wirkt ihr Gesichtsausdruck. Irgendwann hat sich ihr Lächeln in eine Grimasse verwandelt. Kurz darauf verweist sie mich auf ein Bücherregal. Ich solle erst einmal wissen was ich will und dann könne sie mir helfen. Wobei auch immer sie mir dann noch helfen möchte. Während ich beginne in einem der dicken Ordner zu blättern, frage ich mich, ob ich das Wort „Berufsorientierungszentrum“ falsch interpretiert habe. Sie verschwindet in einem Büro. Bevor sie die Tür schließt, höre ich, dass sie mit ihrer Kollegin zu kichern beginnt. Wahrscheinlich ist sie auch eine dieser Personen, die ganz zufrieden sind, da ihr Job „nicht nervig“ ist. Zumindest so lange sie die Kunden mit Bücherregalen beschäftigt.

Ich blättere im Ordner. Meine Augen brennen vor Müdigkeit. Die Buchstaben verschwimmen in einander. Ich versuche mich zu konzentrieren, um Berufsbeschreibungen zu lesen, die ich bereits aus dem Internet kenne. Was das denn bringen könnte, flüstert eine schüchterne Stimme irgendwo in meinem Kopf. Ich frage sie, was wäre, wenn ich mehr könnte, als ich jeden Tag tue. Ich weiß nicht recht, ob sie mich zur Antwort anlächelt oder auslacht. Genau wie die Beraterin, die kurze Zeit später wieder vor mir steht. „Wissen Sie jetzt weiter?“, fragt sie. Ihr Interesse ein bisschen besser vortäuschen könnte sie schon, denke ich mir. Mit einer enthusiastischeren Tonlage, oder gar einer Regung ihrer Gesichtsmuskeln. Grafik, sage ich dann. Oder Kommunikation. Ja, Kommunikation, das ist noch besser als Grafik.

Vielleicht um sie zu testen, oder aufgrund aufkommender Unsicherheit füge ich „Obwohl hier steht, man muss sich perfekt ausdrücken können, und ich… na ja… als Ausländerin…“ hinzu. Da mein mündliches Französisch-Niveau ziemlich gut ist und mein Akzent angeblich nur noch leicht, erwarte ich natürlich, dass sie mich in meinem Vorhaben bestärkt. Das gehört doch ein wenig zu ihrer Rolle, finde ich. Sie müsste sagen, dass man doch so gut wie alles kann, wenn man hart an sich arbeitet und, weil doch etwas Großes in uns allen steckt. Weil ich absolut davon überzeugt bin, dass ein Akzent überhaupt keine Behinderung darstellen kann, sondern eine Person sogar noch glaubwürdiger, natürlicher macht. Ich denke dabei an eine brasilianische Fernsehsprecherin, die in Frankreich mittlerweile drei Sendungen hat und eine der erfolgreichsten Moderatorinnen des Landes geworden ist. Nicht nur mit, sondern bestimmt gerade wegen diesem Akzent.

Doch da nickt die Beraterin zu meinem Erstaunen. Ich solle mir eher etwas anderes suchen, denn, ja, der Akzent, hm. Es scheint ihr peinlich zu sein darüber zu sprechen, so als wäre ein Akzent etwas ziemlich Schlimmes. Eine Art unheilbare Krankheit, durch die infizierte Personen sowieso von vorn herein nicht nur weniger Job-finde-Chancen, sondern auch direkt eine geringer Lebenserwartung haben.

Die flüsternde Stimme in meinem Kopf beginnt wieder zu Lachen und fragt mich höhnisch, weshalb ich nicht seit Dienstschluss auf dem Balkon, in der Herbstsonne sitze. Schließlich tut man das so, bei „nicht nervigen“ Jobs, über die man nicht nachdenken muss, sobald man die Arbeitsstelle verlässt. Meistens nicht einmal solange man sich auf dieser befindet. Dieses Lachen wird lauter, so laut, dass ich meine eigene Stimme fast nicht mehr hören kann, als ich „Vielen Dank, ich werde mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen.“, sage, aufstehe und der Beraterin die Hand schüttele.

Helfen musst du dir schon selbst – denke ich, während das Glöckchen der Tür klingelt. Jetzt schließe ich die Jacke, weil es ein bisschen kühler ist als vorher. „Oder du gibst dich zufrieden mit dem „nicht nervigen“ Job.“, flüstert die höhnische Stimme. Der wäre es natürlich lieber wir würden alle brav zuhause auf dem Sofa sitzen und diesen Leuten in Anzügen zuhören, die über Hass und von uns geschaffenen Problemen sprechen, aber niemals über Liebe oder gar die Größe des Menschen.


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