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Die Grippewelle

Bist du der Grippewelle entkommen? Ich dachte ich könnte es. Falls ich mich recht erinnere, entkam mir sogar ein "Ich werd eh nie krank.", als meine Kollegin sich schnäuzte. Stimmt natürlich nicht.

An einem Dienstag war es so weit: Während der Nachtschicht hustete ich ständig. Hin und wieder hatte ich außerdem plötzliche Hitzeschübe, die mein Gesicht in eine glühende Tomate verwandelten. Krank? Ich? Ach was, ein bisschen müde vielleicht, sagte ich mir und bereitete einen Chai-Tee zu. Die Nacht erschien mir länger als sonst. Gegen 6 Uhr wartete ich bereits ungeduldig auf das Eintreffen meiner Ablöse, die dreißig Minuten später auftauchen würde. Da überraschte mich mit einem Mal das leise Piepen das Feuermelders. Zu früh hatte ich mich darüber gefreut die Nacht gut überstanden zu haben. Was musste man da noch einmal machen, bei diesem unangenehmen Geräusch im Ohr? Abwarten und Tee trinken wohl eher nicht.

Mit Telefon und Generalschlüssel ausgestattet, rannte ich zur Anzeigentafel. "Stiegenhaus, Zone vier", stand darauf. Zone vier, Zone vier... Wo war noch einmal die verdammte Zone vier? Bedeutete das vierter Stock? In genau fünf Minuten würde der Feueralarm losschrillen und damit das ganze Hotel aufwecken. Außer ich könnte vorher feststellen, dass es sich um einen Fehlalarm handelte und ihn desaktvieren. Oder das Feuer entdecken, was ich für eher unwahrscheinlich hielt. Und in diesem Fall den Alarm läuten lassen. Natürlich, wenn es wirklich brennt, muss man den Alarm selbstverständlich läuten lassen, auch wenn er Kopfschmerzen bereitet. "Zone vier!", rief ich, als ich diese wenige Sekunden später auf der Liste entdeckte. Zu meinem Schrecken erstreckt sich Zone vier vom Treppenhaus im Keller bis zu selbigem im 7.Stock. Bei Feuergefahr darf man den Lift aus Sicherheitsgründen nicht benutzen, weshalb ich Hals über Kopf die Treppen nach unten stürmte. Im Keller war alles in Ordnung. Kein Feuer, kein Rauch, kein Verrückter der auf irgendeinen Auslöser gedrückt hatte. So rannte ich nach oben. In jedem Stock hielt ich an, berührte die Sicherheitstür, die den Gang vom Treppenhaus trennt, öffnete sie kurz und stellte fest, dass auch dort alle Kunden friedlich schliefen. Ohne Feuer. Bereits im fünften Stock war ich so außer Atem, dass ich beinahe an meinem Reizhusten erstickte. Vielleicht war ich also doch krank. Aber nur vielleicht. Da ich es nicht mehr schaffte zu rennen, ging ich den letzten Stock nach oben. Schritt für Schritt. Einatmen. Ausatmen. Husten. Bestimmt würde der Alarm bald läuten und alle Kunden aufwachen, wären panisch und weshalb? Weil ich nicht schnell genug den bescheuerten Turm raufrennen konnte. Und der Alarm würde fünf Minuten lang durchplärren, Fehlalarm versteht sich, denn Feuer sah ich weit und breit keines. Keuchend fing ich mich an der letzten Sicherheitstür ab. Auch sie war kalt. Ich drückte sie auf. Im siebten Stock war ebenfalls alles in Ordnung. Allerdings bemerkte ich hier, dass der Wind wie wild um das Gebäude heulte. Wahrscheinlich war dieser Auslöser des Piepens. Verdammter Wind. "Keine Zeit verlieren.", sagte ich laut zu mir selbst und machte kehrt, um die Treppen zurück nach unten zu laufen. Hustend kam ich vor der Anzeigetafel an. Meine müden Augen begannen zu tränen. Konzentration. Ich atmete tief ein und aus und las mehrere Male das Merkblatt zur Entschärfung. AB, A, 12345, *... Aufgeregte betätigte ich die angegebenen Knöpfe. "Und Enter.", keuchte ich leise, immer noch außer Atem. Welches war der Enter-Knopf? Der mit dem Pfeil geradeaus oder dem Strich horizontal und dann gerade aus? Der zweite. Natürlich. Doch der Feuermelder piepste weiter. Ich drückte noch einmal auf besagte Knöpfe, wieder ohne Erfolg. Was zum Henker hatte ich denn falsch gemacht? Schnell rief ich den Security an, der sich zum Glück ganz in der Nähe befand. Immer noch außer Atem erklärte ich ihm das Problem. Sobald ich aufgelegt hatte, überkam mich ein weiterer Hustenanfall. Ich fand mich damit ab, dass der Alarm nun bestimmt gleich läuten würde – und das wohl einzig und allein deshalb, weil ich nicht zur letzten Feuerschutzübung kommen hatte können. Verschlafen. Logisch, wenn man nach einem Nachtdienst gegen 14H bei der Arbeit antanzen soll. Hustend und keuchend verschwand ich in den Toiletten. Nach Luft ringend wartete ich darauf mich vor Anstrengung zu übergeben, doch meinem Rachen entkam nur ein bisschen Spucke. Ich zwang mich ein weiteres Mal dazu mehrere Male tief ein und aus zu atmen – schließlich könnte jederzeit ein Kunde um die Ecke kommen. Wie würde das denn aussehen? Eine halb erstickende, halb heulende Rezeptionistin mit hochrotem Kopf! Panisch noch dazu. Ich ging zurück an die Rezeption. Der Security war mittlerweile angekommen und betrachtete seelenruhig die Anzeigentafel. "Hast du den Knopf schon probiert?", fragte er, scheinbar in Zeitlupe nach oben rechts deutend. "Welchen denn?", stotterte ich mit sich überschlagender Stimme. "Stop Signal." - "Nein, Klingt nicht schlecht. Stop Signal. Ja, das könnte der richtige Knopf sein." - "Denk ich auch." Mit einer kurzen Bewegung des Retters war das Problem gelöst. Kein unangenehmes Piepsen mehr. Beruhigende Stille. Und die glücklichen Kunden konnten zufrieden weiterschlafen, bis an ihr Lebensende. Oder das Läuten ihres Weckers. Wecker ist nicht gleich Feueralarm.

Am Nachmittag darauf fühlte ich mich noch schwächer. Zu Gliederschmerzen kamen nach kurzer Zeit Fieber und eine unbesiegbare Appetitlosigkeit. Den Geruch von Käse, Tomatensauce, sogar Suppe, fand ich unsagbar ekelhaft. "Einen Termin? Frühestens morgen abend!", antwortete mir die Sekräterin vom Gesundheitszentrum unseres Dorfes, in dem vier oder fünf Allgemeinmediziner ihre Praxen haben. Alle ausgebucht. Schließlich herrscht eine Grippewelle über ganz Europa. In einem Fernsehbericht hatte man uns erklärt, dass in einem Altenheim an der Grenze zur Schweiz über zehn Personen an dieser umgekommen wären. Ob es sich dabei nicht eher um Altersschwäche gehandelt haben könnte, hatten mein Freund und ich überlegt. Vielleicht drückte man das heutzutage anders aus, um die Grippeimpfung ein bisschen populärer zu machen.

An besagtem Dienstag war ich zu müde, um über so etwas nachzudenken. Ich beschloss mir einen Agatha Christie Film anzusehen, um noch während der Titelmusik einzuschlafen. Irgendwann wachte ich in einer eiskalten Schweißlacke auf. Meine Jogginghose, T-Shirt und Pulli waren völlig durchnässt. Die Stimme, die auf mich einredete, erschien mir weit entfernt. Ich sträubte mich dagegen ins Badezimmer zur gehen, da mir die Energie fehlte. Mir war erst heiß und gleich darauf so kalt, dass meine Zähne wie wild aufeinander schlugen. Genügend Kraft, um wirklich Widerstand zu leisten, hatte ich allerdings nicht. So ließ ich mich unter die Dusche zerren. Eigentlich eine gute Entscheidung, dachte ich, als ich wenig später sauber in meinem trockenen Bett lag. Trocken sollte dieses nicht lange bleiben, denn das Spektakel der eiskalten Lacke wiederholte sich in dieser Nacht noch mehrere Male.

Nach etwa zwanzig Stunden Schlaf fühlte ich mich besser. Ich hatte das Gefühl so gut wie kein Fieber mehr zu haben, hüllte mich in mehrere Hosen und Jacken und begab mich zu meiner Hausärztin. 38.8°, offenbarte sie mir. Da war ich irgendwie fast erleichtert, am Vortag kein Thermometer zur Verfügung gehabt zu haben. "Trinken Sie viel? Sie müssen viel trinken." Ich nickte. Selbst wenn ich meinen Mund direkt an den Wasserhahn gefesselt hätte, würde darin eine Wüste herrschen. "Und bevor sie dieses Medikament hier nehmen, müssen Sie unbedingt etwas essen."

Doch essen wollte ich nicht. Es ekelte mir vor allem. Sogar meine geliebten indischen Gewürze machten mir eher Lust darauf, mich zu übergeben als sonst etwas. Stattdessen drehte sich mein Fiebertraum um mit Zucker vollgestopfte Chemie-Getränke, die es in unserem Haushalt nicht gibt. Man drückte mir einen Teller Suppe in die Hand, den ich nicht wollte. Anscheinend aß ich ihn trotzdem, denn nach einiger Zeit war er leer. Irgendwie kam auch dieses starke Medkament in meinen Mund, das mich sofort einschlafen ließ. Sogar im Schlaf fühlte ich mich beschissen. Heiß. Kalt. Nass.

Vor allem aber stellte ich mir die Frage, wie es Menschen gehen muss, die krank und alleine sind. Alte, gebrächliche Menschen, die niemand unter die Dusche zerrt. Menschen, die auf der Straße leben und denen keiner Suppenteller in die Hand drückt. Flüchtlinge, die bei -10° in Zelten schlafen. Was passiert denn mit denen, wenn die Grippewelle kommt?


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