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Naturgewalten

Anscheinend findet er es mittlerweile zu anstrengend die Blitze durch das schmale Wohnzimmerfenster zu beobachten, denn ich spüre, wie sich das Sofa leicht unter seinem Gewicht senkt. Ich selbst verkrieche mich so gut wie möglich unter der Decke, als ob mich die vor dem Gewitter schützen könnte. "Gehen wir dann runter schlafen?", fragt er, woraufhin er das letzte Mal den Rauch seiner Zigarette ausatmet. "Nein, heute nicht..." murmle ich und er will wissen wieso."Wenn der Strom wieder angeht bleibt ja sonst das ganze Stockwerk beleuchtet bis wir aufwachen." Er bejaht. "Das Licht kommt sicher bald wieder, dann wachen wir auf, drehen es ab und gehen runter, ok!?" Ich grunze zustimmend. Das hört er sicher nicht besonders gut, da ich meinen Kopf gegen den Polster gepresst halte. Und das Unwetter macht Lärm. Aber er weiß auch so, dass ich dasselbe gedacht habe wie er.

Selbst mit geschlossenen Augen bemerke ich die Blitze, die die Nacht erhellen. Auf so gut wie jeden dieser Blitze folgt ein Donnern. Das habe ich aus Österreich weitaus lauter in Erinnerung, also stört es mich überhaupt nicht. Vielleicht hat das etwas mit den Bergen zu tun, aber ich sollte mich wohl erst einmal darüber informieren, bevor ich irgendeine These aufstelle. Sanft prasselt der Regen ans Fenster. Das hätte beinahe eine gemütliche Stimmung erzeugen können, wäre mit dem Strom nicht die Heizung ausgefallen.

Keine Ahnung wie viel Zeit vergangen ist, seitdem wir hier in der Dunkelheit liegen. Seitdem ich immer öfter nachts arbeite, bleibe ich auch immer öfter in den Nächten wach, in denen ich eigentlich schlafen sollte. Wobei ich morgen frei habe - aber es ist schließlich schon drei Uhr morgens und den gewünschten Film können wir ohne Strom schwer ansehen. Sein Atem geht nicht so langsam wie sonst. Bestimmt ist er auch noch wach. Etwas poltert laut, ganz nah an unserem Fenster. "Was war das?", frage ich überrascht. Er murmelt, dass er es nicht wisse. In dieser Tonlage, die ankündigt, dass er bald einschlafen wird. In diesem Fall bedeutet "Ich weiß nicht." gleichzeitig "Mach dir keine Sorgen und versuch zu schlafen". Ich mache es wie immer, wenn ich wach im Bett liege, so wie ich es schon als Kind getan habe: Ich stelle mir vor, wie mein Leben in ein paar Jahren aussehen könnte, natürlich nur die positiven Seiten. Normalerweise lässt mich das ganz schnell, ganz beruhigt einschlafen.

Es muss mittlerweile etwa vier Uhr sein. Genau kann ich das natürlich nicht sagen, aber der Strom ist noch nicht zurückgekehrt und der Regen plätschert immer noch, wie seit Stunden an unser Fenster. Stunden? Wie seit Wochen! Ja so ist sie, die sonnigste Region Frankreichs - wenn es erst einmal mit dem Schlechtwetter beginnt, muss man alles festhalten, worauf man steht, liegt, oder sitzt. Und sich selbst natürlich. Irgendetwas blubbert. Komisch klingt das.

"Shit, das Fenster unten...", sagt er und steht auf, um auf Keller-Niveau zu gehen, wo unser Schlafzimmer ist. Genau, dieses Fenster hatte ich ganz vergessen. Um in der Dunkelheit zu sehen, drückt er auf ein paar Tasten am Handy.

Unsere Wohnung ist an einen Hügel gebaut. Auf der oberen Seite des Hügels sind die Straße und der Eingang. Auf Eingangshöhe, also im Erdgeschoss sind das Wohnzimmer, die Küche, das Esszimmer und das Bad. Die Schlafzimmer sind auf der unteren Seite des Hügels. Ihre Fenster befinden sich etwa drei Meter über einem leeren Flussbett. Hin und wieder verwandelt sich dieses in einen kleinen Bach. Im Sommer ist es dort unten sehr angenehm, weil es schön kühl ist.

"Verdammte..." Ich setze mich auf, als mein Freund laut flucht. "Das gibt's ja nicht!", redet er weiterhin mit sich selbst. Also nehme ich mein Handy und stehe auf. Barfuß sind die Fliesen ganz schön kalt, jetzt im Winter. Ich gehe die Holztreppe nach unten. "Schau, da.... Das Wasser kommt..." Er hält seine improvisierte Taschenlampe in Richtung WC. "Ich hab' mich schon gefragt was das für ein komisches Blubbern ist!", falle ich ihm ins Wort und starre erschrocken auf die Toiletten.

Genau, Toiletten gibt es da unten auch. Und aus diesen kommt bräunliches Wasser, das über die Klobrille läuft und von dort aus auf den Boden tropft. 10 Zentimeter hoch muss dieses Wasser mittlerweile sein. "Warte, ich hab' da den großen Eimer und die zwei kleinen... komm, nimm du den - ich füll' den großen auf und trag ihn raus und du..." Er spricht seinen Satz nicht zu Ende. Ich nicke und tue es an seiner Stelle: "…Und ich schau' mal, ob das Wasser zumindest vom Waschbecken aus abfließt." Gesagt, getan. Das Waschbecken funktioniert wie üblich. Nach einiger Zeit lege ich eine Pause ein, um die zwei dicken Ordner mit unseren Papieren nach oben zu tragen, nur zur Sicherheit. Die liegen doch ohnehin auf der Kommode, wo das Wasser nicht hin kann, aber Papiere sind einfach so etwas Heikles, dass ich sie lieber im oberen Stock weiß.

"He, wenn jetzt... Der Strom! Wenn jetzt der Strom zurückkommt..." Er deutet auf einige am Boden liegende Kabel. Gleichzeitig nähert sich der Wasserspiegel gefährlich den untersten Steckdosen an. Er nimmt zwei Stufen auf einmal nach oben, um die Sicherung abzudrehen. „Pass auf, dass du nicht hinfällst!“, rufe ich ihm hinterher, doch ich bezweifle, dass er mich hören kann, zwischen Donner und Regen, dem Blubbern des Wassers aus den Toiletten und seinen eigenen Schritten. Wir füllen weiter die Eimer auf. Meine übergroße hellgraue Jogginghose, die ich als Pyjama verwende, habe ich mittlerweile bis zu den Knien hoch gekrempelt. Kalt ist diese braune Brühe. "He... die Klamotten - die Klamotten müssen wir auch nach oben tragen!", fällt mir ein und ich hole den erstbesten Stapel aus der Kommode. Er schüttelt den Kopf. "So hoch steigt das Wasser doch nie, komm hilf mit besser mit den Eimern!" Ich sehe ein, dass was er sagt logischer ist, lege den Stapel auf der Mitte der Treppe ab.

Etwa eine halbe Stunde später stellen wir fest, dass der Wasserspiegel sich um einige Zentimeter gesenkt hat. Wo auch immer die braune Kloake hin rinnen mag, sie verschwindet. Erleichtert und vor allem todmüde verlassen wir den unteren Stock. Wir stellen uns in die Eingangstür des Gebäudes. Es regnet nicht mehr. Trotzdem fließen Wassermassen von allen Nachbarsdächern. Die Abflüsse quellen über. Es sieht aus, als würde einer von ihnen an unser Auto pinkeln, wie der Nachbarshund das gerne tut. Wie gut, dass wir es heute nicht in dem sonst leeren Flussbett geparkt haben.

Die Nachbarin kommt die Treppe nach unten. Ihre blonden Haare stehen, so weit es ihnen bei deren Kürze möglich ist, in verschiedene Richtungen. Sie selbst ist in einen bunten Morgenmantel gehüllt. Weit reißt sie die Augen auf, als wir ihr erzählen, was bei uns passiert ist. Nach oben kommen sollen wir, um einen Kaffee zu trinken. Beruhigen würde uns das. Ich bezweifle, dass Kaffee eine beruhigende Wirkung hat. Wir folgen ihr trotzdem. Im Gegensatz zu uns hat sie die elektrischen Fensterläden offen gelassen. So sehen wir den Fluss, der sich hinter dem Haus gebildet hat. Gefährlich nähert er sich unserem Schlafzimmerfenster an. "Seitdem ich in diesem Dorf wohne, ist das Wasser nur einmal bis zu den Fenstern gestiegen, es sinkt bestimmt bald wieder.", meint sie. Ich denke sie hat so gut wie ihr ganzes Leben in unserem Dorf verbracht. Aus diesem Grund hat ihr Satz eine beruhigende Wirkung auf mich. Weitaus beruhigender als der starke Kaffee. Ihr schwarz-weißer Hund winselt vor sich hin und kuschelt seine Schnauze in meinen Schoss. Meine Nachbarin, die im Alter meiner Mutter, aber so ganz anders ist, redet wie immer ohne Luft zu holen. Dass ihr Sohn ein Haus besichtigen wird und vielleicht will er es dann ja doch nicht und dann könnten wir es mieten, sagt sie. Wann immer ihr Redeschwall es mir erlaubt, spreche ich auch so viel wie möglich, denn dadurch gelingt es mir mich abzuregen.

Um etwa fünf gehen wir zurück in unsere Wohnung. Um nicht mehr auf das Licht unserer Handys angewiesen zu sein, legen wir ein Kabel von der Garage aus bis nach unten. Auf den Lampenschirm hängen wir eine Lampe die der Nachbarin gehört und das Ende des besagten Kabelns bildet. Zu unserer Überraschung ist das Wasser plötzlich so gut wie weg. Wir atmen auf und gehen ins Freie, um auf andere Gedanken zu kommen. Allzu gut funktioniert das nicht, da das Rauschen des Flusses durch die gesamte Straße hallt. Mülleimer und Holzteile schleppt er mit sich und die Brücke des Dorfes versteckt er gekonnt unter Wassermassen. Ich überlege ob ich Morgen zur Arbeit fahren können werde, verwerfe den Gedanken aber gleich. Weit weg ist das im Moment, in dieser windigen Nacht.

Mehrere Dorfbewohner sind bereits wach und dabei überflutete Garagen zu leeren, oder erstaunt den Fluss zu beobachten. Erst einmal, vor 40 Jahren sei der so hoch gewesen.

Mein Freund bleibt bei den Nachbarn, um ihnen mit ihrer Garage zu helfen. Sobald es hell wird ruft er die Besitzer unserer Wohnung an, sagt er. Ich gehe zurück ins Haus. Kurz lege ich mich aufs Sofa, aber nur ganz kurz.

Noch bevor ich meine Augen öffne, merke ich, dass er jetzt auch neben mir liegt. Ich weiß nicht wie lange ich geschlafen habe – alles was ich weiß ist, dass mich das Klingeln an der Tür geweckt hat. Nebenbei bemerkt erwarte ich niemanden und habe bestimmt so gut wie gar nicht geschlafen... Genervt taumle ich im Halbschlaf zur Wohnungstür. Doch da ist niemand, außer dem Regen, der jetzt wieder in Flüssen von den Dächern springt. Grau ist es draußen, fast so dunkel, als wäre es noch Nacht. Noch genervter, da man mich umsonst aus dem Schlaf gerissen hat, gehe ich zurück in Richtung Sofa.

Und da fällt mir plötzlich etwas Seltsames auf. Ein blinkendes Licht, von unten herauf, das mich an die Alarmblinkanlage meines Autos erinnert. Begleitet wird es von einem zischenden Geräusch. Das Wasser ist zurück und über das orangefarbene Kabel gestiegen. Allzu gut scheinen die beiden sich nicht angefreundet zu haben. Es ist die Lampe der Nachbarin, die sich in eine Diskokugel verwandelt hat. Innerhalb von zwei Sekunden bin ich bei der Garage, um das Kabel aus der Steckdose zu ziehen. Aufgrund meiner Müdigkeit wäre ich beinahe über die kleine Stufe im Gang gestolpert. Lange kann ich nicht geschlafen haben, denn mein Kopf raucht und ich habe das Gefühl gar nicht mehr Herr meines Körpers zu sein. Es ist Mittag.

Da wir vor ein paar Stunden für kurze Zeit Strom in der Wohnung hatten, sind die Fensterläden jetzt offen. Seltsam laut ist das Rauschen des Wassers plötzlich. So nähere ich mich dem Balkon. Gleich darauf halte ich in meiner Bewegung inne und schwenke meinen Blick von rechts nach links. Wieder zurück nach rechts. Das Wasser ist tatsächlich bis zum Balkon angestiegen – also mindestens fünf Meter hoch. Logischerweise bedeutet das, dass der gesamte untere Stock überschwemmt ist. Wie ein kleines Boot sieht der Balkon aus, richtig niedlich hätte ich das gefunden, in einer anderen Situation, versteht sich. So kapiere ich nicht wirklich was vor sich geht und stehe wie versteinert inmitten des Esszimmers.

Ich muss irgendein erschrockenes Geräusch von mir gegeben haben, denn wenige Sekunden später höre ich die Stimme meines Freundes hinter mir. „Woah.“, ist alles was ihm einfällt. "Scheiße, die Klamotten!", entgegne ich und eile bereits in Richtung Treppe. "Geh nicht ins Wasser!", meint er leicht stotternd, während er nun auch verschlafen von links nach rechts schaut. Der Klamottenstapel, den ich vor ein paar Stunden in die Mitte der Treppe gelegt habe, schwimmt in der bräunlichen Suppe. Es gelingt mir ein paar Kleidungsstücke zu retten.

"Ich hol… warte… geh zur Nachbarin… " und dann rennt er auch schon nach draußen. Da mir nichts Besseres einfällt, mache ich ein paar Fotos vom Wasser. Dabei beginnt mein Herz schneller und schneller zu schlagen, so, dass es in meinem Kopf wiederhallt. Das Handy weggepackt gehe ich von der einen Seite der Wohnung auf die andere. Und wenn das Wasser jetzt auch in diesen Stock kommt? Ob es unsere Schlafzimmerfenster bereits eingedrückt hat? Nein, dann würde es bis ganz nach oben reichen und nicht nur bis zur Mitte. Ein Scheppern ertönt. Ob das die Fenster waren? Nein, dann würde der Spiegel sofort ansteigen. Kurz denke ich darüber nach, was uns passieren hätte können, hätten wir, wie sonst, unten geschlafen.

Um mich nicht verrückt zu machen, gehe ich nach oben zur Nachbarin. Sie sei es nicht gewesen, die geläutet hat. „Die Wohnungsbesitzer hab ich aber angerufen, aber die sind in ihrer anderen Wohnung. Sie haben gesagt dort schaut’s schlimmer aus, also kommen sie nicht.“ Wie entgegenkommend. Ich habe keine Lust mich zu ärgern, also rufe ich sie nicht an. Bei dem Wetter habe ich ohnehin keinen Empfang. Von der Terrasse der Nachbarin aus sieht man den Fluss um einiges besser. "Zum Glück ist unser Balkon auf der Höhe der Straße. Das heißt das Wasser kann dorthin rinnen, anstatt in unser Haus.", stelle ich erleichtert fest. Die Nachbarin bejaht. Ob wir wohl versichert sind. Aber sicher. Es hat aufgehört zu regnen.

Mein Freund kommt mit einem Nachbarn wieder, der uns einlädt, da er Strom hat. So vertreiben wir uns die Zeit mit Gesellschaftsspielen, heißer Schokolade und Süßigkeiten. Vor allem kommen wir auf andere Gedanken.

Als wir abends zurückkommen, gibt es zwar immer noch keinen Strom, doch das Wasser ist verschwunden. Ich schnalle mir eine dieser Lampen an den Kopf, wie sie die Bergarbeiter haben. Die gehört auch der Nachbarin. Sauberer als in einer Grotte ist es im unteren Stock bestimmt nicht. Ein Regal ist vom Schlafzimmer ins WC gewandert, wo es quer zwischen den Wänden hängt. Die Tür des Zimmers hat es aus der Verankerung gerissen und zu Boden gedrückt. Alles ist bedeckt von einer braunen Schlammschicht, auf der ich beinahe ausrutsche. Der Schrank ist so schief, dass er droht umzufallen und die Kommode liegt am Boden, neben einem unserer Computern. Bereits jetzt riecht es, als hätte der Schimmel begonnen sich bei uns einzunisten.

"Ich werde nie wieder dagegen sein unsere Wohnung zu versichern! Zum Glück hast du dich durchgesetzt." vernehme ich die Stimme meines Freundes hinter mir. "Denkst du jetzt finden wir schneller ein Haus mit Garten?", frage ich. "Sicher. Wenn wir die Fotos jemandem zeigen, vermietet der uns sein Haus sofort." "Siehst du, was wir für ein Glück haben?" „Aber sicher.“ Sein Lachen hallt in der Grotte wider.


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