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Feierabend

Wir sind im Jahre 2012, während einem der Wintermonate, in einer pariser Vorstadt. Es ist eine der ruhigeren: Am Hügel haben die Ärzte und Anwälte ihre Häuser und die Strasse hochgehend trifft man auf artige Schüler mit gesenktem Blick. Wir wohnen nicht auf dem Hügel, sondern unten, neben dem RER-Bahnhof. Das ist praktisch. Gleichzeitig bedeutet es, dass die Durchzugsstrasse direkt unter unserem Fenster vorbeigeht und die Leute, die sich tagsüber damit beschäftigen Flaschen vor dem Bahnhof zu leeren auch näher an unserem Haus, als an dem meiner Frauenärztin vorbeikommen. Der RER ist übrigens eine Art S-Bahn, eine Mischung aus Zug und Metro. Ich habe Glück nicht weit von der Endstation zu wohnen, denn so kriege ich morgens, auf dem Weg zur Arbeit immer einen Sitzplatz. Abends sieht das manchmal anders aus.

So stehe ich wiedereinmal an die Tür gelehnt, eingeklemmt zwischen vielen müden Augen, die auf ihre I-Phones und I-Pads starren. Es gelingt mir nicht mehr mich zu konzentrieren, also lese ich nicht. Die meiste Zeit schläfert mich das Lesen ausserdem ein. Ich habe auch keine Ohrstöpsel in den Ohren, denn nach einem langen Tag rauscht es bereits vor Müdigkeit in meinem Kopf. Stattdessen umklammere ich schlicht und einfach eine der Eisenstangen, die sich senkrecht durch das Abteil ziehen. Meine Beine sind so schlaff, dass sie drohen einzuknicken. Als der RER anhält, drücke ich mich mit aller Kraft nach hinten, gegen das Glas in der Tür. So gelingt es mir besser das Gleichgewicht zu halten. Der Businessman neben mir tut es mir gleich. Die Tür auf der anderen Seite öffnet sich. Eine gigantische Menge an Leuten beginnt auszusteigen. Alle haben das selbe, ausdruckslose Gesicht nach einem langen Arbeitstag und sie alle schweigen, drängeln sich leicht in Richtung Tür, in der Hoffnung sich so eine Minute früher als die anderen auf ihr Sofa setzen zu können. Da ich von der gegenüberliegenden Seite her komme, bin ich eine der letzten, die austeigt. Es ertönt bereits das Warnsignal der sich schliessenden Türen. Ich falle beinahe hin, als mich die Menschenmenge plötzlich dazu zwingt nach der Stufe zwischen Zug und Bahnsteig anzuhalten. Fast wäre ich gegen die kleine Frau mit dem grauen Mantel geprallt. Eine der vielen Personen, die sich in dieser Stadt in einem grauen Mantel verstecken. Ich habe auch so einen. Wir stellen uns alle vor der Treppe zum Ausgang an, um so schnell wie möglich durch die Halle nachhause gehen zu können. Ein paar weitere Passagiere versuchen ihr Glück vor dem Lift, aber das dauert genauso lange. Nach einigen Sekunden, die mir wie Stunden erscheinen, beginnt sich die Menge zu bewegen. Ich gehe rechts, für den Fall, dass jemand anders noch schneller ist und mich überholen möchte. In Paris gewöhnt man sich daran zu laufen, so wie man sich daran gewöhnt in die Leere zu starren, anstatt die anderen Menschen zu beachten. Ich denke nicht, dass das etwas mit Ignoranz zu tun hat, sondern eher mit Selbstschutz. Vielleicht ist Ignoranz an sich eine Art von Selbstschutz, aber darüber können wir dann sonntags zum Kaffee diskutieren (Wie gut, dass ich aufgehört habe Kaffee zu trinken und sonntags so gut wie immer arbeite). Wer findet es schon angenehm in einer stickigen U-Bahn zu stehen, in der man sich nicht um sich selbst drehen kann, ohne jemanden anzurempeln? Wenn man in die Leere starrt oder die Augen schliesst, ist man sich dem weniger bewusst und kann beruhigt in seiner Phantasiewelt verharren. Ausserdem gibt es in dieser Stadt zu viele Eindrücke. Würde man aktiv alle Menschen, Schaufenster und Autos ansehen, hätte man nicht mehr genügend Energie um seinen täglichen Aufgaben nachzukommen. Vielleicht gehen die Pariser so schnell, weil sie ständig auf der Flucht vor diesen Eindrücken sind. Ich mache einen Bogen um den Platz vor dem Bahnhof, auf dem auf Parkbänken verteilt einige seltsame Gestalten hocken. Das ist kein richtiger Park, sondern einfach nur ein kleiner Platz mit ein paar Bäumen und Blumenbeeten, die einen Kreis bilden. So bleibe ich die wenigen hundert Meter bis zum Haus auf dem beleuchteten Gehsteig. Wir wohnen in einem alten, dreistöckigen Mehrfamilienhaus aus schwarzen und roten Ziegeln. An dessen Aussenwand baumeln mehrere lose Kabel. Umgeben ist es von einem Metallzaun, wohinter sich ein verkommener Hof mit ein paar Bäumen und einer ungemähten Rasenfläche befinden. Der Pizzabäcker von gegenüber beobachtet mich, als ich versuche das Gartentor zu öffnen. Ich schaue ihn nicht an, aber fühle seinen Blick genau. Ausserdem weiss ich, dass er Tag und Nacht zusieht, was seine Nachbarn treiben. Um so mehr ärgere ich mich darüber, dass das Tor wiedereinmal klemmt. Als ich ihm einen Fusstritt verpasse, fliegt es in hohem Bogen auf. Dabei komme ich beinahe aus dem Gleichgewicht. Soll sich der Bäcker doch auf seinen Teig konzentrieren! Die drei Stufen vor dem Haus stolpere ich mit müden Beinen nach oben, an den stinkenden Mülltonnen vorbei. Sie quellen über, bestimmt weil die Müllabfuhr sie nicht mitnehmen wollte. Das muss wegen den Nachbarn sein, die immernoch nicht verstanden haben, dass der Müll getrennt werden muss. Am Boden daneben stehen mehrere Wein- und Whiskeyflaschen. Die Haustür ziehe ich fest zu mir, damit sie sich aufschliessen lässt. Da das Gebäude, in dem wir wohnen keine Aussenbeleuchtung hat, habe ich nun Schwierigkeiten damit das Schlüsselloch zu finden. Meine Finger sind kalt. So richtig kalt, dass es mir nur mit Mühe gelingt sie zu bewegen. Lang lebe dieses verkommene Haus und der verdammte Besitzer! Dieser wohnt oben am Hügel, in einer der Villen. Natürlich kommt er trotzdem fast jeden Tag vorbei, um irgendetwas in dieser Bruchbude zu reparieren oder an den Türen von denen zu klopfen, die sich weigern ihre Miete zu bezahlen. Er klopft mehr und repariert weniger. In der Dunkelheit des Treppenhauses taste ich mich nach oben, zu den Toiletten, die sich im Gang befinden. Da sich das Fenster nicht mehr komplett schliessen lässt, ist es auch hier eiskalt. Irgendwie kälter als draussen. Zumindest funktioniert das Licht. So kann ich schnell genug reagieren, um mich nicht auf die mit Urin verziehrte Klobrille zu setzen. Ich bin zu müde um mich zu ärgern. Der Duft des Abendessens dringt bis ins Treppenhaus. « Hast du die Toilette gesehen? », frage ich, während ich meine Schuhe von mir schüttele. Sie fallen lärmend auf den Holzboden. « Das muss der Alkoholiker von unten sein. Wenn er uns zumindest beim Putzen helfen würde! » Erschöpft lasse ich mich aufs Sofa fallen. In diesem Moment beginnt das Hauptabendprogramm, ein alter Film mit Louis de Funes. Ich drehe ein bisschen lauter, denn das wird bestimmt lustig. « Sie haben die Mülltonnen nicht geleert. », meine ich. « Bestimmt zu viele Flaschen. », erwidert er. Ich nicke lachend. Der Hauptdarsteller fuchtelt aufgeregt wie ein kleiner Zwerg mit seinen Händen auf und nieder. Da klopft es an der Tür. Zu müde, um irgendeiner Person aus diesem Haus ins Gesicht zu sehen, ignoriere ich das Klopfen und drehe den Ton des Fernsehers noch lauter. Welch Ignoranz! Das muss Paris mir gelehrt haben. Doch es klopft weiter, lauter. So stehe ich schliesslich doch auf, um an die Tür zu gehen. Beim öffnen muss man Acht geben, sonst fällt der Türknauf zu Boden. Vor mir steht der breite Nachbar aus dem Erdgeschoss, der mit seinen Pausbacken an einen Teddybären denken lässt. « Ah gut, ihr seid ja doch zuhause. » Ich nicke. « Geht’s euch gut? » Ich nicke wieder. Er scheint durch mich hindurch zu sehen, so als würde ihn die Antwort auf seine Frage überhaupt nicht interessieren. « Und dir? » Er nickt beiläufig und spricht weiter. « Der… der Nachbar, der gegenüber von mir wohnt… » Er spricht von dem Alkoholikernachbarn. « Ja! », ruft jetzt mein Freund aus der Küche und steckt hastig seinen Kopf aus der breiten Durchreiche hervor. « Das muss DER sein, der ständig alles vollpinkelt! » « Nein, ich.. », stottert der Teddybärennachbar aufgeregt. « DU? Im Ernst? » « Nein, nicht ich… Was anderes… Ich hab’ den schon seit mehreren Tagen nicht gesehen. » « Also meinst du, dass jemand anders daran Schuld ist? », bringe ich mich ein. « Ich rede doch überhaupt nicht von den Toiletten! », meint der Nachbar jetzt aufgebracht. Dabei werden seine runden Augen noch grösser. Wir schauen ihn beide erwartungsvoll an. Erst jetzt bemerke ich, dass sein Teddybärengesicht besorgt wirkt. « Der Nachbar. » « Ja. » « Er arbeitet doch nicht. » « Nein, also in seinem Zustand… Hast du die ganzen Flaschen… » Ich deute meinem Freund mit flacher Hand ruhig zu sein. « Er arbeitet nicht. », wiederholt der Nachbar. « Das heisst doch, dass er zuhause sein sollte. » « Er ist doch auch immer… » « Ich hab ihn seit mindestens vier Tagen nicht gesehen. » « Vielleicht ist er… auf Urlaub. », meint mein Freund und macht sich daran das Gemüse umzurühren. Den zweiten Teil des Satzes hört man nicht mehr so genau, weil er in ein Murmeln übergeht. « Er hat doch kein Geld. » « Vielleicht bei Verwandten. », schlage ich vor, in der Hoffnung den Teddybärennachbarn damit abzuwimmeln. « Seine Familie lebt doch nicht in Frankreich. » « Denkst du es geht ihm nicht gut? », frage ich schliesslich, als ich bemerke, dass er nicht vor hat uns in Ruhe zu lassen. Er hebt die Schultern, doch sein Blick verrrät, dass er genau das denkt. Mein Freund schiebt ihn wortlos aus der Wohnung, um ihm nach unten zu folgen. Ich tue es ihm gleich. Und so beginnen wir damit an die Tür das Alkoholikernachbarn zu klopfen. Zu rufen. Keine Antwort. Der Teddybärennachbar drückt die Türklinke nach unten. « Seltsam, er hat nicht abgeschlossen. » « Naja in seinem Zustand… » Ich deute meinem Freund wieder still zu sein. Der Teddybärennachbar macht ein paar Schritte in die Wohnung. Wir drängen uns dicht hinter ihn, ein wenig wie im RER. An der Seite des Vorhangs scheint ein Lichtstrahlt durchs Fenster, der sich bis hin zum Boden zieht. Und da liegt der Alkoholikernachbar, neben seinem ungemachten Bett am Teppich. Mit gekrümmtem Rücken umklammert er eine dieser Flaschen, die aussieht wie die, die neben der Mülltonne stehen. Seine Augen sind geschlossen, sein Mund hingegen leicht geöffnet. Seine Haut hat einen Violettstich. Um seinen Kopf herum hat sich eine Blutlache gebildet, dunkelrot. Noch bevor ich die Situation wirklich begreifen kann, fordert mein Freund mich auf nach oben zu gehe « Warte besser einfach auf mich… ok!? » Er sieht mich besorgt an, ein bisschen so, als wäre ich noch ein Kind. Als ich nicht sofort reagiere, legt er seinen Arm auf meine Schulter, um mich sanft, aber bestimmt in Richtung Tür zu schieben. Natürlich tut er das, wo ich doch schon nach Criminal Minds Mühe habe einzuschlafen. Aber das hier hat nichts mit dem Fernsehen gemein. Wo ist denn die angsteinflössende Musik? Ausserdem sieht der tote Nachbar so gut wie gleich aus wie zuvor, als er noch lebendig war, abgesehen davon, dass er sich nicht mehr bewegt. « Sollten wir nicht erst seinen Puls anfassen? », gebe ich im Umdrehen von mir. « Aber er ist doch schon ganz violett! », erwidert der Teddybärennachbar kopfschüttelnd. Als Kinder hatten wir uns öfter vorgestellt einen Toten im Wald zu finden, oder am Fluss. Das hatte mir damals ziemliche Angst eingejagt. Tatsächlich löst die Situation nichts berauschenderes als Gleichgültigkeit in mir aus. Wie kann das sein? Ist meine Reaktion normal oder ist es die Schuld der Medien? Es kann doch nicht alles ständig die Schuld der Medien sein, oder!? « Das ist der Alkohol. », höre ich meinen Freund sagen, während ich die Treppen hochgehe. Sollte ich es nicht traurig finden, dass das Leben eines Menschen, der seit Jahren alleine in einem Zimmer lebt, so endet? Vor kurzem haben wir ihm einen Fernseher geschenkt, damit er zumindest eine andere Beschäftigung hat, abgesehen von den Flaschen. « Rufst du die Polizei? Mein französisch… » Die Stimme das Nachbarn verstummt, als ich die Tür hinter mir schliesse. Ich setze mich aufs Sofa, wie das wohl all die anderen gerade machen, die mit mir den RER geteilt haben. Dann stelle ich mir die Frage, ob es in der Wohnung nach Leiche gerochen hat, aber ich erinnere mich nicht. Louis de Funes fuchtelt immernoch mit seinen Händen auf und nieder. Ich drehe noch ein bisschen lauter, denn das wird bestimmt lustig. Dann beginne ich damit Gemüse auf meinen Teller zu schaufeln. Es ist spät. Bald sollte ich ins Bett, denn morgen muss ich früh raus.


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