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Die Kinder

Die Direktorin winkt mir von der Tür aus zu. Obwohl die Sonne meine Sicht blendet, bin ich sicher, dass es sich bei dem massigen Körper um den ihren handelt. Aufgrund des vorbeifliegenden Flugzeuges höre ich sie nur gedämpft, aber ich nehme an, dass es mein Name ist, den sie da ruft. Laut Elodie sind gestern 32 Flugzeuge übers Zentrum geflogen. Mit grossen Schritten beginne ich damit die Wiese zu überqueren. Währenddessen werfe ich einen kurzen Blick um mich. Patrick ist im Baumhaus und steckt seinen Kopf, sowie seine Arme durch das Fenster. Er hält mehrere Blumen in der Hand und scheint mit sich selbst zu sprechen. Das tut er oft, wenn er nicht gerade jemanden verpetzt. Nina und Marie bauen eine Sandburg, die eher einem Sandberg gleicht. Ich lächle. Fast alle anderen Kinder spielen Ball in einem Kreis. Das Spiel von heute morgen scheint ihnen zu gefallen, denn sie versuchen es zu imitieren, wenn sie sich auch nicht genau an die Regeln erinnern.

2012. Wir sind in einem pariser Vorort, einem der « besseren ». Gerade deswegen war Elly gestern so schockiert, als es in ihrer Siedlung zu einer Schiesserei kam. Einer der Schüsse hat sich in ihre Küche verirrt. « Da waren lauter Kinder in der Siedlung und diese verdammten Dealer haben nichts besseres zu tun als um sich zu ballern. Zum Glück wurde niemand verletzt. », hat sie heute morgen mit zitternder Stimme erzählt. Es war das erste mal, dass ich ein Zittern in ihrer Stimme vernommen habe. Die Augen inmitten ihres faltigen Gesichtes sind ganz gross geworden, so, dass ihr Blick mich an einen Frosch denken hat lassen, und gleich darauf an eine ängstliche Kuh. Dabei haben diese Augen schon so vieles in ihrem Leben gesehen, dass ich eigentlich dachte man könnte sie nicht mehr schockieren. Elly wohnt 5 Minuten von hier, in der Siedlung gleich neben der Schule, in der wir letzte Woche mit den Kindern Basketball gespielt haben. Die Kinder kommen mittwochs zu uns, weil sie da frei haben, am Wochenende und manche vor der Schule. Dann frühstücken wir mit ihnen und bringen sie danach zu ihrer Klasse. Das macht Spass, wenn es auch sehr anstrengend sein kann. Leider ist es mir mit dem wenigen Geld nicht sehr einfach mich über Wasser zu halten. Wie kommt es, dass die jenigen, die sich um die Kinder kümmern den Mindestlohn verdienen, wo doch die Zukunft in deren Händen liegt? Und wie kann es sein, dass sie von den Eltern genau dieser Kinder belächelt werden? Nachdenklich betrachte ich das frisch gemähte Gras. Es duftet immernoch und ermutigt einige seiner abgetrennten Halme dazu sich an meine Sneakers zu kleben. « Ich hab’ zu Elly gesagt, dass sie drinnen bleiben soll. », meint die Direktorin, die jetzt vor mir steht. Ich nicke und kneife meine Augen zusammen, um die mich blendende Sonne abzuwehren. « Nachdem was gestern und heute passiert ist, denke ich, es ist besser, wenn sie bei den ruhigeren Kindern bleibt. » « Ja, sicher. », stimme ich ihr zu. « Ich schick’ Ihnen dann Marc, in ein paar Minuten ist seine Bestrafung zu Ende. Passen Sie genau auf ihn auf! » « Natürlich. » Als sie geht, setze ich mich auf einen weissen Plastikstuhl, an die hohe Steinmauer. Diese grenzt den Garten von der Strasse ab. Von dort aus kann ich alle Kinder genau beobachten. 10 sind im Hof, die anderen 6 bei meiner Kollegin im Gebäude. Patrick betrachtet immernoch die Blumen. Da kommt Marc durch die Tür nach draussen. Er ist 8 oder 9, für sein Alter ziemlich gross und stämmig. Seine haselnussbraunen Augen sind von einem kugelrunden Gesicht umrahmt. Manche der anderen Kinder haben Angst vor ihm, weil er unberechenbar und launisch sein kann. Marc scheint in die Leere zu blicken, weit über den Hof, durch das Baumhaus hindurch. « Es ist mir egal, was die Alte sagt, ich werde sie ohnehin eines Tages töten. », hat er heute beim Essen zu Patrick gesagt. Natürlich hat Patrick Elly sofort gerufen, um ihr das zu erzählen, denn Patrick mag Elly und vor allem ist er eine Petze. Wenn jemand Marcs Familienhintergrund kennt, dann Elly. Seine grossen Brüder, die mittlerweile 15 und 17 sind, waren beide in ihrer Obhut und sie hat mir schon öfter erklärt, dass es mit ihnen auch nicht leichter war, als mit Marc. Eher noch schwerer. Mittlerweile sind sie auf der Polizeistation bestens bekannt. Ich stehe auf, als ich bemerke, dass Marc wiederholt um das Baumhaus schleicht. In Panik hat sich Patrick in dessen letzte Ecke zurückgezogen. Sein Gesicht versteckt er mit gesenktem Blick unter der roten Kappe. Von der Wiese aus sieht man nur die. Doch Marc weiss genau, dass es Patrick ist, der sich da oben zusammenkauert. Mit so grossen Schritten wie möglich gehe ich auf das Baumhaus zu. « Ich werde dich töten, du wirst sehen, Ich töte dich, töte dich…. » wiederholt Marc immerwieder flüsternd. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Eigentlich mag ich Marc. Natürlich mag ich all diese Kinder hier auf eine Art und Weise und bevorzuge oder benachteilige niemanden. Aber insgeheim gibt es immer einen oder zwei, die man mehr mag als die anderen. Oft sind es die, bei denen man Fortschritte jeglicher Art feststellen kann, oder sogar die, die am « schwierigsten » sind. Anfangs wollte Marc nie in unser Zentrum kommen, bestimmt weil seine Brüder ihm erzählt hatten, es wäre schrecklich. Wochen, gar monatelang hat er in einer Ecke gehockt und auf den Boden gestarrt. Hin und wieder hat er mit jemandem gesprochen, aber meistens nur, um den zu beleidigen. Dann, eines Tages ist er zu mir, an den Zeichentisch gekommen. Anscheinden war es ihm zu blöd geworden alleine zu sein. Als er so neben mir sass, kam er nicht darum herum meinen "Tagg" anzusehen. « Wow, das sieht stylisch aus. », meinte er nach einiger Zeit des Überlegens. « Kannst du mir sowas malen? » Meine "Taggs" sind eigentlich eher schlecht bis durchschnittlich, aber die Kinder finden sie einfach wunderbar. « Mir wär’ lieber du versuchst das selbst, aber ich zeig’ dir natürlich wie es geht. » Ich habe ihm ein paar Tipps gegeben, was ihn seinen Groll gegen alles und jeden ein wenig vergessen liess. Sein "Tagg" war nicht wirklich erkennbar, aber das ist natürlich völlig unwichtig.

« Marc! », rufe ich, als hätte ich ihm etwas wichtiges mitzuteilen. « Ja? », gibt er zurück, mit einer leicht genervten Stimme, die zeigt, dass er sich ertappt fühlt. « Wieso gehst du denn die ganze Zeit um das Baumhaus? » « Nur so. » « Ach so. » Also beginne ich nun auch um das Baumhaus zu gehen, ein paar Meter hinter ihm. Insgeheim lasse ich ihn natürlich nicht aus den Augen, aber wenn er hersieht, tue ich so, als würde ich meine Schuhe betrachten. Einigen Grashalmen ist es tatsächlich gelungen sich an ihnen fest zu kleben. « Kathi? », gibt er irgendwann zögernd, mit einer überraschend piepsigen Stimme von sich. « Ja? », antworte ich. « Wieso gehst du denn jetzt auch die ganze Zeit um das Baumhaus? » « Ach nur so. » « Ach so. », brummt er leicht unverständlich. Dann rennt er ganz plötzlich zwischen die zwei grossen Nadelbäume, wo ein paar Autoreifen aufgestapelt übereinanderliegen. Patrick klettert, immernoch in Panik, vom Gerüst und läuft in Richtung Gebäude. Bestimmt ist er noch nie so schnell gerannt, zumindest nicht seitdem ich hier arbeite. « Kathi ich geh’ rein zu Elly, ok!? », ruft er ausser Atem, ohne anzuhalten. « Okay, bis dann. » 9 Kinder im Garten, 7 im Gebäude. « Was war eigentlich in der Kantine los? », frage ich Marc, als ich zwischen den zwei grossen Kiefern ankomme. Es kann auch sein, dass es Tannen sind. Er nuschelt irgendetwas unverständliches und verschränkt die Arme vor seinem Körper. « Okay, wenn du nicht reden willst,macht das gar nichts. Ich bleibe hier gemütlich im Schatten auf meinem Reifen sitzen. » Sofort holt er hörbar Luft. Seine Stimme zittert ein wenig, als er zu sprechen beginnt, fast so wie Ellys heute morgen. « Nein es ist, weil er gesagt hat, dass es gut ist… gut ist… », stottert er. « Wer hat gesagt, dass was gut ist? », frage ich. « Patrick. Elly hat mich bestraft, weil ich zu Patrick gesagt habe ich bringe ihn um, aber sie weiss gar nicht, warum ich das gesagt habe. » « Und warum hast du das gesagt? » Ein wenig hilflos hebt er die Arme, um sie sogleich auf seine Oberschenkel fallen zu lassen. « Er hat gesagt es ist gut, dass mein Vater tot ist. » Ein paar Sekunden lang betrachte ich das Baumhaus. Insgeheim gebe ich Patrick recht, aber logischerweise kann ich das nicht zugeben. « Weisst du, Marc, es war natürlich sehr unüberlegt, so etwas zu sagen. Aber woher soll denn Patrick wissen, wie sich das anfühlt, was du erlebt hast? Wenn er es wissen würde, würde er doch niemals so etwas sagen. » Er nickt. « Ja, aber er hat es gesagt. Also habe ich immernoch Lust ihn umzubringen. » Trotzig verschränkt er wieder seine Arme vor der Brust. « Aber das meinst du doch nicht wirklich. Du hast doch gestern gesagt du möchtest studieren oder ein BTS machen. Denkst du das geht dann noch? » « Nein. Aber meine Brüder studieren doch auch nicht. » « Bis jetzt sind sie auch noch zu jung dazu. Was machen die denn sonst so? » Er lacht und fährt sich mit der linken Hand über den Kopf. « Mein Bruder hat letzte Woche ein Auto geklaut. Mama war ganz schön böse. » « Siehst du, deine Mama hat doch schon genügend Kummer. Es wäre nicht schlecht, wenn du versuchen würdest ihr das Leben ein bisschen zu erleichtern. Wenn du jemanden umbringst erleichtert das bestimmt nichts. » « Und wer hat mir das Leben erleichtert? « , ruft er plötzlich aufgebracht und steht, den Tränen nahe, auf. « Mein Vater, als er besoffen unseren Küchentisch zerschlagen hat? » Ich bleibe sitzen und schaue von dem leicht abgebröckelten Schriftzug seines T-Shirts hoch zu seinen enttäuschten Augen. « Das ist vorbei. Und wenn du davon sprichst andere zu töten, macht es das bestimmt nicht besser. Überleg’ dir lieber was du jetzt machen möchtest und... in ein paar Jahren. » Mit seinem Kinn deutet er in die Richtung des Gebäudes. « Malst du mir ein Graffity? », fragt er unsicher. « Einen Tagg meinst du, ein Graffity sprüht man an die Wand. » « Ja, einen Tagg. » Unbeholfen spricht er das englische Wort mit einem langezogenen ä aus. Das bringt mich zum schmunzeln. « Wenn du willst zeige ich dir nocheinmal wie das geht, aber malen musst du es selbst. » Schweigend gehen wir nebeneinander her.


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